Hajo Sengs Buch „Autistisches Erleben. Eine Annäherung aus lebensweltlicher Perspektive“ (2021) bietet eine eindrucksvolle Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung, autobiografischen Einblicken und der Perspektive von Autist:innen. Es legt den Fokus auf das Denken und Wahrnehmen autistischer Menschen und untersucht, wie sie ihr Autistischsein erleben.
Inhalt und Zielsetzung
Das Buch basiert auf einer qualitativen Studie, die durch Interviews und Workshops mit autistischen Jugendlichen durchgeführt wurde, sowie auf den persönlichen Erfahrungen des Autors. Hajo Seng, der selbst Autist ist, erweitert damit das Forschungsfeld um eine systematische lebensweltliche Betrachtung des Themas Autismus. Sein Ziel ist es, das Verständnis autistischen Erlebens zu vertiefen und Brücken zwischen diesen lebensweltlichen Perspektiven und den Erkenntnissen der Neurobiologie und Neuropsychologie zu schlagen. Seng kritisiert dabei die oft defizitorientierte Sichtweise und fordert einen Perspektivwechsel hin zu einer Anerkennung von Autismus als Normvariante des Menschseins.
Aufbau des Buches
Das Buch gliedert sich in mehrere Kapitel, die unterschiedliche Aspekte des autistischen Erlebens beleuchten:
- Teilnehmende Forschung: Seng beschreibt die Bedeutung partizipativer Ansätze in der Autismusforschung und die Notwendigkeit, Autist:innen als Expert:innen in eigener Sache einzubeziehen. Er plädiert für eine Forschung, die an den Bedürfnissen autistischer Menschen ausgerichtet ist.
- Anderssein und Perspektivwechsel: Die Interviews und Workshops zeigen, dass autistisches Erleben vor allem durch das Anderssein und das Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenperspektiven geprägt ist. Autist:innen berichten häufig von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung, weniger von Behinderung im klassischen Sinne.
- Autistische Fähigkeiten: In den sogenannten Fähigkeits-Workshops erarbeiten die Teilnehmenden gemeinsam, wie autistische Denkweisen und Wahrnehmungsstile als Stärken erkannt und genutzt werden können.
- Biografische Annäherung: Seng reflektiert seine eigenen Erfahrungen als Autist und zeigt, wie er sein mathematisches Interesse schließlich zu einem Beruf machen konnte. Dabei schildert er auch die Herausforderungen, die er auf seinem Weg überwinden musste.
Besondere Ansätze und Erkenntnisse
Eine zentrale Methode des Buches ist der „Button-off“-Ansatz, bei dem einzelne Aspekte autistischen Erlebens wie in einer Collage zusammengeführt werden. Diese Herangehensweise ermöglicht es, ein vielschichtiges Bild des Autismus zu zeichnen, das immer wieder ergänzt werden kann. Seng betont, dass Autismus nicht als Krankheit oder Störung, sondern als Persönlichkeitsmerkmal betrachtet werden sollte. Er fordert eine gesellschaftliche Haltung, die Inklusion und Verständnis fördert.
Fazit
Hajo Sengs Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Autismusforschung und bietet eine wertvolle Perspektive für Fachleute, Betroffene und Interessierte. Es regt dazu an, Autismus neu zu denken und dabei die Lebensrealitäten autistischer Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Mit seiner Kombination aus wissenschaftlicher Tiefe und persönlicher Note bietet es zahlreiche Impulse für einen Dialog auf Augenhöhe.
Weitere Informationen zum Buch finden Sie auf der Verlagsseite.